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VS beim Eclat-Festival 2020

Hörspiel mit dem Vokalensemble Sinsheim im DLF

26.01.2020
Dr.-Sieber-Halle - Sinsheim - 17 Uhr

Programm

Pietro Dossena:
Déjà-vu #1
für 5-köpfiges Percussionsensemble
Ausführende: Schlagzeugensemble der Musikschule Sinsheim
Konrad Kather, Marielena Riek, Jola Collier, Jonas Brecht, Jörg Burgstahler (Leitung)
Dauer: 5 Minuten

Fredrik Zeller:
Pling
Preisträgerkomposition des ad libitum Wettbewerbs Neue Musik Baden-Württemberg 2015/16
für 4-händiges Klavier, Violine und Schlagzeug
Ausführende: Cornelia Ritz, Werner Freiberger, Katharina Riek, Jörg Burgstahler
Dauer: 5 Minuten

Christoph Ogiermann:
K_Wahl
für gemischten Chor, Keyboard, Gitarre und Audio-Zuspieler
Ausführende: Schüler*innen des Wilhelmi-Gymnasiums Sinsheim
Kammerchor des Hartmanni-Gymnasiums Eppingen
Werner Freiberger, Markus Markowski
Vokalensemble Sinsheim
Leitung: Erwin Schaffer
Dauer: 8 Minuten

Konzeptimprovisation
„KTS“ (Kraft Towards Schidlowsky)
nach: Leon Schidlowsky (1931)
Ausführende: MusikAktionsEnsemble KLANK
Dauer: 8 Minuten

***   Pause   ***

Uraufführung des Sonderpreises des ad libitum Wettbewerbs
des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg 2018/19:

Christoph Ogiermann/Tim Schomacker:
SINSHOME, oder: Die größte Kraft
Mit KLANK (Hammerschmidt, Markowski, Ogiermann, Schomacker),
VOKALENSEMBLE SINSHEIM (Leitung: Erwin Schaffer),
Berkan Zerafet - Countertenor,
Matthias Schneider-Hollek – Klangregie,
Thomas Keiser - Live-Video,
den Film-Darsteller*innen: Antje Dubral, Matthias Duderstadt,
Tobias Hamann, Dina Koper, Heiko Müller und Ute Wicke,
den Drehorten: Atelier Fehrfeld, Kreienborg Feinkost, Der Blumenonkel,
Reisebüro TUI Flughafen, Buchhandlung Kamloth + Schweitzer,
Bauernmarkt am Berliner Platz, (alle in Bremen) /
Wochenmarkt, Metzgerei Bräunling, Blumen & Gärtnerei von Hausen,
Rhein-Neckar Zeitung, Schmitt & Hahn-Buch und Presse, TUI Reisecenter,
Auto- und Technikmuseum (alle in Sinsheim).
Dauer: 23 Minuten


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*****Programmdetails*****

 

SINSHOME, oder: Die größte Kraft

Für den sowjetischen Filmregisseur Wsewolod Pudowkin war die „größte Kraft“ seiner Zeit eine Masse, die einer gemeinsamen Idee nachgeht und sich darob formiert.
KLANK und das Vokalensemble Sinsheim gehen in diesem „Oratorium“ der Frage nach, was das denn heute sein könnte, die „größte Kraft“, die Zusammenhalt ermöglicht / erschleicht / erzwingt angesichts zunehmend isolierender Arbeitsbedingungen und isolierter hochaktiver Käuferschaften (zumindest in hiesigen Breiten).

Erzählt wird die Geschichte der Transformation der Stadt Sinsheim zu SINSHOME, einer Stadt, die eine avantgardistische Vorreiterrolle beim Übergang zu einer „einzelligen“ Gesellschaft übernommen hat, in der alle KVs, alle körperlichen Versammlungen als „no go“ gelten.
Absurderweise übernimmt ein CHOR, ausgerechnet dieser tief in der Tradition verankerte Klang-Körper, als Erster und in der Folge am heftigsten die Auflösung aller körperlichen Versammlungen. Er selbst erzählt, wie es anfing, wie er propagierend durch noch-Sinsheim ging, wie nach und nach Alle (die Gewerbetreibenden, die Vereine, die Todkranken, die Metaphysiker etc.) sich in ihre produktiven Zellen zurückzogen und letztlich, ja, auch der Chor, der Chor sich in Einzelne aufzulösen gewusst hat.
Und was ist nun die größte Kraft? Hören Sie selbst.

Über eine strenge, musikalischen Struktur, eine Art Passacaglia, legen KLANK improvisierende und konzeptuelle Musiken, der CHOR rezitiert als Gruppe, als wäre er/sie Eine(r), es gibt „starke Gesänge“ (Canti firmi), die der CHOR als singendes Ganzes realisiert, das sich aber zum Ende hin tatsächlich in „einzellige“ Bestandteile auflöst und einen visuellen Part, der eine weitere Transformation zeigt: von der Filmästhetik des frühen sowjetischen Films hin zu Splitscreens, wie sie in einer Folge der Serie „Modern Family“ zu sehen sind.
Alles klar? Bei weitem (uns auch) nicht, und dann gibt es ja noch den PARANOIDIOTEN (vormals: der Dorfdepp), ein schreberscher Körper, der ganz allein sich als ALLE weiß......

Parallel zum Konzertereignis entwickelte KLANK ein Hörstück: DIE SINS. Die Ursendung ist am 6. Februar 2020 um 22.03 Uhr im Deutschlandfunk Kultur.

(Christoph Ogiermann)

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Dèjá-vu #1

Die Komposition konzentriert sich auf Elemente, die alle unterschiedlich mit der Idee der Erinnerung verbunden sind. Das grundlegendste „bereits erlebte“ (gehörte oder gesehene) Element ist wohl der konstante Beat. Er wird während des Stücks aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.
Das akustische Gedächtnis wird durch die Verwendung von sehr neutralen und üblichen rhythmischen Mustern (von denen einige von Youtube-Videos transkribiert wurden) erforscht, die typischerweise mit kommerzieller Musik verbunden sind. Der wiederkehrende „Groove“ ist das charakteristischste Beispiel für solche Muster.
Ein rätselhafterer Erinnerungstyp findet sich zudem in den mysteriöseren Passagen, in denen der Klang des Haartrockners atavistische Gemütszustände hervorruft, womit auch das Ende des Stücks seine eigene theatralische Dimension enthüllt.

Ein Déjà-vu als Erinnerungstäuschung, ein Ereignis, von dem man in gegenwärtiger Situation meint, es schon einmal erlebt zu haben: So erinnern auch die Spieler im Schlagzeugensemble immer ihren Ausgangspunkt, ihren Achtelbeat. Ob sie ihn wiederaufgreifen oder in Klangflächen weiterdenken und zu ihm zurückkehren, ihr gegenwärtiges Tun ist nichts Anderes als etwas, was es schon einmal gab, was sie schon einmal erlebt haben, nur jetzt in variierter, modifizierter und auch auf das erste Hören in verborgener Form. Dass darin auch ein Geheimnis liegt, zeigt das Geräusch des Haartrockners. Es ist Sinnbild für das Rauschen eines Urklangs, eines Tones, der vor dem Achtelbeat und dem Puls als solchem existierte.

(Erwin Schaffer)

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Pling

Zeller greift die Tradition der Clustertechnik auf: im Klavierpart bilden seine Tontrauben zum einen ein starkes rhythmisches Element, zum anderen realisieren sie atmosphärische Klänge. Anweisung dazu lauten: „wie ein Schatten“ oder „umhüllen“. Spielerische Erweiterung geschieht durch Sekund- oder Quintklänge, die mit der Geigenstimme korrespondieren.

Nach Zellers Intention soll die Geigenstimme auch von jungen Schüler*innen ausgeführt werden können. Gleichwohl verzichtet die Stimme nicht auf starke Effekte durch besondere Spielanweisungen und sie fordert enorme Präsenz beim Vortrag. Ihr Spiel mit leeren Saiten prägt das Stück strukturell, was wiederum vom Klavier aufgegriffen wird. Beide Instrumente reizen die Möglichkeiten ihres Tonumgangs extrem aus, was nicht nur klangliche und dynamische Vielfalt ausdrückt, sondern Expressivität der Musik an sich abbildet.
Zeller gibt beiden Instrumenten zudem einfache kleine Melodielinien, die einen kurzen „Hörblick“ in unsere traditionellen Hörgewohnheiten gewähren. Er schafft dadurch einen humorvollen Brückenschlag und zeigt sich als Komponist, der einer gewissen Selbstironie nicht fernsteht.

Auch im Schlagzeug, obwohl nur ein kleines Instrumentarium vorgeschrieben ist, herrscht enorme Klangvielfalt: Holz, Fell und Metall sind gleichermaßen vertreten. Der Schlagzeuger malt zum einen atmosphärische Miniaturen oder er treibt die Musik mit rhythmischen Mustern voran. Auch das Schlagzeugspiel korrespondiert mit den anderen Stimmen, es greift die Rhythmik imitatorisch auf, gibt sie selbst vor oder geht mit den anderen Stimmen colla parte. 

(Erwin Schaffer)

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K_Wahl

Etwas, das Allen gleichermaßen fremd erscheint, an das Niemand Erinn’rung hat,
daran werden wir merken, wie seltsam Unterscheiden ist.

In der Komposition steckt die Idee, Kulturen und ihre vorhandenen Unterschiede in einer anderen Qualität anzuschauen. Nicht zuzuordnen, nicht ein sich abheben würde das primäre Ziel sein, sondern die Einsicht, dass letztlich dieses Unterscheiden selbst „seltsam“ ist.

Ogiermann lässt über dem Rauschen einer alten Filmtonspur (aus Pudowkins Film „Der Deserteur“ aus dem Jahr 1933) das Stöhnen eines Einzelnen hören, das Publikum sieht aber die Vielen. Man hört das Individuum und sieht die Masse. Nach dem Zusammenprall, dem Zusammenfall von Kulturen erleben wir das Leid des Einzelnen und das Leid Vieler im selben Moment.

Nach dieser Exposition, im Dreiklang der Gesamtkomposition, kommt es zu einem bewegten durchführungsartigen Teil: in einer Reflexion über das Geschehene wird Kulturkritik postuliert („…die Schicht von Kulturen abzutragen, die Anlass, Argument und Waffe gewesen“). Vorabaufnahmen von Einzelstimmen zufällig beim Einkauf angetroffener Passanten werden in einer Vorproduktion zu einem Chor gebildet, der wiederum mit dem realen Chor in der Aufführung korrespondiert.

In einer Art Synthese singt der Chor zum Abschluss den oben genannten Text in einem Satz, der selbst „fremd“ erscheint. Dissonanzen reihen sich aneinander, musikalische traditionelle Erinnerungshilfen sind in der Kategorie Harmonik ausgelöscht: eine adäquate Umsetzung des Textgedankens.

Zudem konfrontiert Ogiermann den musikalischen Chorsatz und damit uns, mit einem völlig unverständlichen Ereignis. Eine Art von Kurzwellensignalen beherrscht den kompletten Teil. Die scharfe Gegenüberstellung von dermaßen unvereinbaren Kontrapunkten fordert ein Anerkennen von Realitäten, wo ein Unterscheiden, wenn nicht sinnlos, so doch „seltsam“ wird.

 (Erwin Schaffer)