Programm

Kulturen unterscheiden sich
My Generation
(The Who/Satz: Erwin Schaffer)
An die Musik
(Franz Schubert)
Interview
Tsen Brider
(Trad./Satz: Erwin Schaffer)
Interview
Kulturen vermischen sich
Norwegian Wood
(The Beatles/Satz: Erwin Schaffer)
Interview
Englishman in New York
(Sting)
Interview
Hörmusik: Gymnopédie Nr. 1
(Eric Satie)
in der Orchestrierung von Claude Debussy
Carbonara
(Spliff)
∞ ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ PAUSE ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ ∞
Neue Musik
K_Wahl
(Christoph Ogiermann) – Uraufführung
I Nach dem Clash (of K.)
II Folgerung
III Übung
Kulturen engen ein
Interview
Logical Song
(Supertramp/Satz: Erwin Schaffer)
Denn wovon lebt der Mensch
(Bert Brecht/Kurt Weill)
Vincent
(Don McLean/Satz: Erwin Schaffer)
Kulturen verändern sich
Interview
The Times they are a-changing
(Bob Dylan)
People are People
(Depeche Mode/Satz: Erwin Schaffer)
Imagine
(John Lennon/Satz: Erwin Schaffer)

*   *   *   *   * 

Mitwirkende

Holger Ries, Tenor

Kultur-Klub-Band:
Werner Freiberger, Keyboards, Klavier
Hans-Peter Schmitt, Bass
Jörg Burgstahler, Schlagzeug
Karl Schramm, Gitarre, Mundharmonika, vocals
Georg Hammermayer, Klarinette, Saxophon

Annerose Hassert, Bühne, Requisite, Chordesign
Joachim Heitel, Plakat, Medientechnik
Simone Dehoff-Macco, Chorassistenz
Thomas Glasbrenner, Chorassistenz, Korrepetition

Dramaturgie: Heiner Schnitzler

Interviewgäste:
Zory Halter, Gülten Yagmur, Jutta Stier, Jörg Albrecht,
Christian Beck, Tobias Erler, Mihail Kösker
Interviewpartner:
Angelika Grünberger, Beate Otto, Claudia Schießl,
Margarete Hertel, Heiner Schnitzler,
Reinhold Grünberger

VOKALENSEMBLE SINSHEIM
Solisten aus dem Chor:
Claudia Schießl, Annika Glasbrenner, Lisa Mayr

Leitung: Erwin Schaffer

*   *   *   *   *

Auszüge aus dem Programmheft

Musik hören (von Erwin Schaffer)

Musik ist überall, sofort und jederzeit verfügbar.
Und zwar alle Arten von Musik. Online-Dienste
machen es möglich: Spotify oder iTunes und ein
Smartphone genügen. Ein, zwei Befehle auf dem
Touchscreen und es geht los. Warten war gestern.
Ich habe das noch ganz anders erlebt. Wir warteten.
Und zwar auf den Abend, denn da war „Radio
Luxemburg“ auf unserem kleinen Kofferradio erst
einigermaßen gut zu empfangen. Endlich konnten
wir den neuen Hit von den Kinks hören: Sunny
Afternoon. Oder California Dreaming von den
Mamas & Papas. Und ich erinnere mich noch genau
an den Motown-Song Hold on, I’m coming von
Sam & Dave. Das lief so gut wie nie im Radio. Also
musste die Schallplatte her. Die war bloß in unserer
Stadt nicht zu haben, die Läden waren zu klein für
derart ausgefallene Stücke. … ja, in Darmstadt solle
man die Platte wohl kriegen. Also trampte ich die
25 Kilometer dorthin, suchte und fand endlich das
begehrte Objekt.
Es ist leicht zu begreifen, wie kostbar Musik dadurch
wurde. Sie war etwas Besonderes, Einmaliges,
etwas, das man hochschätzte. Sie war nicht jederzeit
und überall verfügbar. Man musste sich im
wahrsten Sinne des Wortes um sie bemühen und
deshalb hörte man sie mit ganz anderen Ohren, als
es heutzutage üblich geworden ist.


                                                               (Foto: Ellen Müller)
Musik hören hatte einen anderen Stellenwert.
Eine klassische Schallplatte mit dem gelben Aufdruck
von der Deutschen Grammophon hielt ich
fast ehrfurchtsvoll in Händen, bevor ich sie auflegte.
Sie hatte ja auch ein kleines Vermögen gekostet
und sie zu besorgen war nicht selten ein
Abenteuer (siehe oben). Der Anfang von Tschaikowskys
erstem Klavierkonzert öffnete dann die
Tür in eine neue wunderbare Welt.
In unseren Tagen werden die 9 Euro 99 pro Monat
von den Streamingdiensten automatisch abgebucht
und die Musik darf dudeln und dudeln: beim
Einkaufen, beim Friseur, im Restaurant. Die Musikauswahl
wird einem dazu noch abgenommen: Vorgefertigte
Playlists übernehmen das und machen
den Hörer zu einem unmündigen Konsumenten.
Auch zuhause hat die große, alles glattbügelnde
Akustiksoße Einzug gehalten. Wenn Musik, dann als
Hintergrundmusik: beim Kochen, beim Putzen, etc.
etc. Das kann ja vieles erleichtern, die Stimmung
beflügeln, Zeit „verkürzen“, aber man bezahlt einen
Preis dafür. Es ist der Verlust des Vermögens, Musik
aufmerksam zu hören. Und generell verkümmert
dadurch die Fähigkeit des tatsächlichen Zuhörens.
Unser Format „Ohrenzeuge“ will zum Hören und
zum Zuhören auffordern und ermuntern. Damit das
Hören in der Musik und das Zuhören in der Kommunikation
zum Erleben werden kann.
Bei uns gibt’s Töne. Sie haben die Ohren.

Ach, die Kultur! (von Heiner Schnitzler)

„Je näher man ein Wort ansieht,
desto ferner schaut es zurück.“
(Karl Kraus)
Weil das dritte „Ohrenzeugen“-Programm die
Sinsheimer Kulturtage eröffnet, haben wir ganz
einfach „Kultur“ zum Thema gewählt. Inzwischen
wissen wir, dass man von manchen Themen besser
die Finger lassen sollte, weil sie nur für Verwirrung
sorgen. Wer kann schon mit Bestimmtheit sagen,
was das ist: „Kultur“?
Sinsheim macht sich die Antwort leicht. Die Homepage
der Stadt beschreibt ihr „Kulturangebot für
Jung und Alt“ so: „Das Spektrum reicht von Kleinkunst,
Kabarett und Revue über Theater und Literaturlesungen
bis hin zu Jazz- und Pop-Konzerten.“
Also wäre „Kultur“ nur ein anderes Wort für Kunst?
Aber was ist mit der „Freikörperkultur“ und den
„Bakterienkulturen“, mit der „Unternehmenskultur“,
der „Fankultur“, der „Subkultur“, der „Kultur
des Hinsehens“, der „Schlafkultur“, der „Esskultur“
und den vielen anderen Kulturen? Ist „Kultur“
vielleicht doch nur eine Kruschtelschublade, in der
alles landet, was irgendwo herumliegt?
Ursprünglich bezeichnete „Cultura“ alles,
was nicht Natur ist, sondern von Menschen
gestaltet.

                                                                  (Foto: Joachim Heitel)
Damit war natürlich zuerst der Ackerbau gemeint,
mit der Zeit wuchsen jedoch die „Kulturleistungen“,
mit denen sich der Mensch von seiner natürlichen
Basis entfernte, gewaltig an. Heute gehört
nicht nur das glyphosatbereinigte („monokulturelle“)
Getreidefeld dazu, sondern auch der Autobahnstau
zwischen Steinsfurt und Bad Rappenau
oder das Reisekostenantragsformular. Und das KZ
Ausschwitz ist „Weltkulturerbe“ der UNESCO.
Die Formel „je weniger Natur, desto mehr Kultur“
war ab dem 19. Jahrhundert sehr beliebt, weil
förderlich für das Selbstwertgefühl einer politisch
zersplitterten „Kulturnation“. Mit ihr ließ sich eine
Hitparade erstellen, bei der ganz oben das eigene
„Kulturvolk“ und unten die „Naturvölker“ standen.
(Letztere wurden dann im Zoo zwischen Antilopen
und Affen zur Schau gestellt.) Dabei wäre kein
Bildungsbürger auf den Gedanken gekommen,
der proletarischen Lebensweise den gleichen kulturellen
Wert zuzugestehen wie der eigenen – ein
Hinweis darauf, dass sich hinter Kulturdefinitionen
auch Fragen gesellschaftlicher Macht verstecken.
Bis in unsere Tage wird in kulturell hochstehenden
Kreisen die Grenze zwischen „Hochkultur“ und
„Pop(ulär)kultur“ eisern verteidigt und der „kulturelle
Niedergang“ heftig beklagt.
Dabei dürfte inzwischen klar sein, dass „Kultur“
nur im Plural zu haben ist, weil die verschiedensten
Kulturen gleichzeitig, neben- und durcheinander
leben: Am Morgen Gottesdienst, am Abend Heavy-
Metal-Konzert. Samstag Fan-Schal im Fußballstadion,
Montag Krawatte in der Bank. Zum Frühstück
Croissant, am Abend Döner.
Kulturen unterscheiden sich, und Kulturen bekämpfen
sich. Das ist nicht verwunderlich, denn in
den Kulturen sind Werte und Weltbilder eingewoben,
die sich heftig widersprechen können. Andererseits
wissen wir: Kulturen vermischen sich, und
Kulturen verändern sich. Sie lassen sich zwar im
jeweiligen Augenblick be-schreiben, jedoch nicht
als Leitbild auf ewig fest- und vor-schreiben. Umso
wichtiger sind das Bemühen um eine konstruktive
Streitkultur, eine kluge Gesprächskultur und die
Entwicklung eines von kultureller Toleranz begleiteten
kulturellen Selbstbewusstseins.
„Kultur ist Reichtum an Problemen“
(Egon Friedell)

K_Wahl Uraufführung · I Clash of K. · II Folgerung · III Übung
(von Erwin Schaffer)

Etwas, das Allen gleichermaßen fremd erscheint,
an das Niemand Erinn’rung hat, daran werden
wir merken, wie seltsam Unterscheiden ist.
Ogiermanns Komposition K_Wahl (K für Kultur) besteht
aus 3 Teilen, die gedanklich absolut stringend
auf ein Ziel gerichtet sind: nämlich die Vorstellung
zuzulassen, dass, wenn Etwas Allen gleichermaßen
fremd ist, Unterscheiden sinnlos wird: ein visionärer
und zugegebenermaßen ein auf den ersten Blick
absurder Gedanke, wo doch gerade der Unterschied,
das Unterscheiden zum Grundprinzip menschlicher
Existenz gehört. Daraus entstehen doch die dynamischen
Prozesse, die unsere Welt bewegen.
Sie finden sich auch in unserem Programmaufbau
„Ohrenzeuge.3“: Kulturen unterscheiden sich, vermischen
sich, verändern sich. Dass sie auch einengen
ist der Dorn im Gefüge, und das bedeutet
in Konsequenz, dass die Menschheit in immer neue
Katastrophen rast.
Deshalb steckt in der vertonten Aussage Ogiermanns
die Idee, Kulturen und ihre vorhandenen
Unterschiede in einer anderen Qualität anzuschauen.
Nicht zuzuordnen, nicht ein sich abheben würde
das primäre Ziel sein, sondern die Einsicht, dass
letztlich dieses Unterscheiden selbst „seltsam“ ist:
Ein Blick auf die andere, verborgene Seite der Medaille
ermöglicht eine neue Sicht der Dinge.
Ein „Etwas“, an das niemand Erinnerung hat, dieses
Etwas gehört ebenfalls zu den Grundprinzipien
unser aller Existenz. In diesem großen See fällt
a priori sämtliches Unterscheiden weg. Der Gedanke
geht sehr weit zurück, dorthin, wo es Fragen
(und Antworten) nicht gibt.
Auch Ogiermann beginnt seine Komposition sozusagen
mit Vergangenem. Angeregt von Szenen
aus Pudowkins Film „Der Deserteur“ aus dem Jahr
1933, zitiert er den überaus einflussreichen und
richtungsweisenden russischen Regisseur, der in
seinem Film die Dynamik und das Wechselspiel
von Individuum und Masse thematisiert.
Ogiermann lässt in „K_Wahl“ über dem Rauschen
einer alten Filmtonspur das Stöhnen eines Einzelnen
hören, das Publikum sieht aber die Vielen. Man
hört das Individuum und sieht die Masse. Nach dem
Zusammenprall, dem Zusammenfall von Kulturen
erleben wir das Leid des Einzelnen und das Leid
Vieler im selben Moment, sozusagen deckungsgleich.
Wir begreifen nun, dass das Leid „Aller“ aus
dem Leid von vielen einzelnen Menschen besteht.
Nach dieser Exposition, im Dreiklang der Gesamtkomposition,
kommt es zu einem bewegten
durchführungsartigen Teil: In einer Reflexion über
das Geschehene wird Kulturkritik postuliert („…die
Schicht von Kulturen abzutragen, die Anlass, Argument
und Waffe gewesen“). Dass das Rauschen der
Tonspur jetzt vom Chor in ein Knistern verwandelt
wird, macht das Geräusch umso bedrückender, die
Vorstellung von einem alles verschlingenden Feuer
liegt nahe. Auch in diesem Teil lässt Ogiermann das
Wechselspiel von Individuum und Masse erlebbar
werden. Vorabaufnahmen von Einzelstimmen
zufällig vorbeikommender Passanten werden in
einer Vorproduktion zu einem Chor gebildet, der
wiederum mit dem realen Chor in der Aufführung
korrespondiert.
Der Teil führt folgerichtig zum Abschluss der Komposition,
zu einer Art Synthese, zu einem neuen
Ganzen. Der Chor singt den oben genannten Text
in einem Satz, der selbst „fremd“ erscheint. Dissonanzen
reihen sich aneinander, musikalische traditionelle
Erinnerungshilfen sind in der Kategorie
Harmonik ausgelöscht: eine adäquate Umsetzung
des Textgedankens. Doch damit nicht genug;
Ogiermann konfrontiert den musikalischen Chorsatz
und damit uns, mit einem völlig unverständlichen
Ereignis. Eine Art von Kurzwellensignalen
beherrscht den kompletten Teil und stellt eine Herausforderung
für Ausführende und Publikum gleichermaßen
dar. Nicht umsonst ist er mit „Übung“
überschrieben. Die Demonstration dieser wie auch
immer zu nennenden Artikulation scheint nicht
von dieser (unserer) Welt zu kommen: Die scharfe
Gegenüberstellung von dermaßen unvereinbaren
Kontrapunkten fordert ein Anerkennen von Realitäten,
wo ein Unterscheiden, wenn nicht sinnlos, so
doch „seltsam“ wird.
Ogiermann verlangt mit seiner Komposition ein Nachdenken
und Hinterfragen über den Umgang mit
Kulturbegrifflichkeiten ein, Vergangenes und Visionäres
bilden dabei den Rahmen. Dass ihm das mit
minimalistischen Mitteln gelingt, ist ein überragendes
Unterfangen.
Christoph Ogiermann
geboren1967, lebt in Bremen